Hilflos saß der Neuling vor dem leeren Blatt Papier. Worüber sollte er schreiben … Recht, irgendetwas mit Gerechtigkeit, mit Wahrheit oder sogar mit Wahrhaftigheit schwebte ihm vor. Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft. An Worte wie Kirche und Stille konnte er sich allerdings nicht erinnern. Sie hätten sowieso nie für ihn zur Debatte gestanden, jedenfalls in seiner jetzigen Situation nicht.
Er überlegte, zwang sich zur Konzentration. Ihm war, als wolle ihm heute nicht recht etwas gelingen. Die Gedanken schweiften wieder und wieder ab. Zu stark war der Eindruck, den die fremde Frau mit Brille auf ihn gemacht hatte. Zufall? Ein glücklicher Umstand vielleicht? Sie hatte ihn gefesselt. Mit irgendetwas. Dabei sah sie unscheinbar aus. Hässlich nicht gerade, ehe wie eine Person, die geraden Schrittes geht.
Er erschrak. Nie hätte er gedacht, dass ihn eine flüchtige Begegnung von der Arbeit abhalten könnte. War es das innere Bild dieser ihrer Körperhaltung, war es der Klang der Stimme … Er fand keine Antwort darauf und versuchte sich wieder und wieder auf seine Alltagsaufgabe zu konzentrieren. Die Zeit drängte. Bis Mittags sollte die abgeschlossene Arbeit vorliegen, und zwar durchgesehen und makellos. Damit meinte er ohne lässige Rechtschreib- und Tippfehler, die in der Eile passieren.
Die Brille, ja es war die Brille, die ihm als erstes ins Auge sprang. Sie erinnerte ihn an eine vorlaute Klassenkammeradin, der dieses Modell ständig von der Nase zu rutschen schien, sobald sie den Kopf leicht beugte. Um das Rutschen aufzuhalten, machte sie diese komischen Nasenbewegungen. Er hätte damals die Uhr danach stellen können, wann der Finger zur Brille ins Gesicht wandert, um das Gestell wieder in die richtige Sehposition zu buxieren.
Doch heute bei der fremden Frau saß die Brille tadellos. Ausserdem, so kam es ihm vor, hatte sie freundliche Augen und gelächelt. Ihn angelächelt, ja das musste es sein, was die Gedanken kreisen ließ.
Verpasst, zu spät. Das ganze Frage- und Antwortspiel von Henn und Hätte, von Was-Wäre-Wenn polterte in ihm und machte sich breit. Hatte er die Gelegenheit seines Lebens verschwitzt, hätte er nur einen Ton von sich geben, ein freundliches Wort sagen sollen …
Schluss jetzt, sagte er laut und meinte seine Gedanken. Schluss, aus und Feierabend.
Doch sollte sich die Begegnung wiederholen, er wollte aufmerksam sein. Und es war, als lächelte er sich selbst zu.
Erleichtert nahm er seine Arbeit wieder auf und siehe da, er beendete sie in der vorgegebenen Zeit, sogar mit korrekter Rechtschreibung.
Erinnerungen haben magische Kräfte …
Und Brillen sitzen nun mal mitten im Gesicht …
Was für eine feine Geschichte!
Liebe Morgengrüße vom Lu
LikeGefällt 3 Personen
Ich wünsche dir einen schönen sonnigen Tag, liebe Inge!
LikeGefällt 1 Person
Dankeschön, lieber Lu
Inzwischen hat sich der Tag schon wieder fast verabschiedet, So langsam kann man die Gedanken einsammeln, damit sie aufgeräumt zur Ruhe kommen. Ich wünsche Dir eine geruhsame Nacht.
LikeLike
Herzlichen Dank dir!
LikeLike
Lieber Lu,
Magische Kräfte … Zauberkräfte. Kräfte, von denen man überrascht wird, weil man Gedankenläufe nicht vorherbestimmen kann. Vielleicht sind Erinnerungen deshalb oftmals Selbstläufer, wenn jemand beginnt, von früher zu erzählen …
LikeGefällt 1 Person
Hätten wir unsere Erinnerungen nicht, liebe Inge, wären wir niemand, ein nichts …
Nur der Schatz unserer Erinnerungen macht die Gegenwart so kostbar, wie sie ist …
Liebe Grüße zur Nacht vom Lu
LikeGefällt 1 Person
Erinnerungen … Meilensteine der Seele.
Wenn die Erinnerung schwindet, taucht auch das Morgen ins Dunkel.
LikeGefällt 1 Person
Eine feine Metafer, liebe Inge … wunderschön ausgedrückt! ⭐
HG vom Lu
LikeGefällt 1 Person
Guten Morgen, lieber Lu
LikeGefällt 1 Person
Hab einen schönen Tag, liebe Inge
LikeGefällt 1 Person
Solche Gedankenstränge kenne ich… Die Geschichte spiegelt sie herrlich. Leider fällt mir das Ablegen nicht so leicht. 😊
Liebe Grüße. Priska
LikeLike